Ausbildung
Warum fällt Physik so oft aus?
Der Lehrermangel besonders in MINT-Fächern lässt Eltern verzweifeln – und gefährdet nicht zuletzt die Ausbildungsfähigkeit vieler Schüler. Was tun gegen die Misere?
von Michael Aust
Die Ludwig-Richter-Oberschule in Radeberg ist eigentlich ein Paradies für den Industrienachwuchs: Hier werden fast alle Schüler zum Hauptschulabschluss oder zur Mittleren Reife geführt. Eine Praxisberaterin kümmert sich ab Klasse sieben um die Berufsorientierung. Es gibt Jobpraktika und Ausflüge zu Betrieben. „Und daher verlässt kein Schüler unsere Schule ohne einen Plan, was er mit seinem Abschluss machen will“, sagt Deutschlehrer René Michel.
Schulen wie diese sind der Grund dafür, dass Sachsen im INSM-Bildungsmonitor mal wieder den ersten Platz unter allen Bundesländern belegt: In den so wichtigen MINT-Fächern, also Mathe, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, erreichen die sächsischen Schüler bundesweit Bestnoten. Ob das so bleibt? Michel hat da so seine Zweifel. „Uns fehlen in Sachsen zurzeit mehr als 1.500 Lehrer“, sagt der 32-Jährige. Auch an der Ludwig-Richter-Schule bleiben immer mehr Pulte frei: So gibt es für die rund 300 Schüler nur einen einzigen Physiklehrer, auf offene Stellen hatte sich niemand beworben. Damit keine Stunden ausfallen, stopfen zwei Kollegen aus anderen Fächern das Physik-Loch. Und in Mathe springt eine Englischlehrerin ein. „Wir versuchen, den Mangel mit viel Engagement auszugleichen. Das mag eine Weile funktionieren, aber es geht zulasten aller Beteiligten.“
„Das große Drama erleben wir in vier, fünf Jahren“
Wido Geis-Thöne, Institut der deutschen Wirtschaft
Nicht nur in Sachsen, überall in Deutschland leeren sich die Lehrerzimmer. Laut einer aktuellen Befragung unter den Kultusministerien der Länder sind bundesweit mehr als 12.000 Stellen für Lehrkräfte vakant. Der Deutsche Lehrerverband geht sogar von über 32.000 fehlenden Pädagogen aus. Harte Daten dazu scheint es nicht zu geben. Was Studien aber zeigen: In den nächsten Jahren wird es nicht besser. „Wenn man einfach mal das Schüler-Lehrer-Verhältnis von heute als Maßstab anlegt, werden uns 2029 voraussichtlich 68.000 Lehrkräfte fehlen“, sagt Wido Geis-Thöne vom Institut der deutschen Wirtschaft. „Das große Drama werden wir in vier, fünf Jahren erleben, weil dann noch mehr Kinder als jetzt in den weiterführenden Schulen ankommen.“
Vor allem in den MINT-Fächern fehlen Lehrkräfte fast flächendeckend. Für die Industrie sind das düstere Aussichten: Denn für die klassische Produktion, für die Entwicklung klimafreundlicher Technologien, für die smarten Fabriken von morgen – da braucht es Beschäftigte mit guten Mathe- und IT-Kenntnissen.
Was hilft gegen den Lehrermangel?
Als Mittel gegen die Schul-Misere wird inzwischen vieles diskutiert, was früher als undenkbar galt. Drei Beispiele:
Vier-Tage-Woche. In einem Modellversuch wurde in Sachsen-Anhalt an zwölf Sekundarschulen die Vier-Tage-Woche eingeführt. Schüler kommen nur noch für vier Tage ins Klassenzimmer, am fünften lernen sie eigenständig zu Hause.
Studierende als Lehrer. In einem Pilotprojekt in Hessen können sich Master-Studierende der Metall- und Elektrotechnik, Informatik und Chemietechnik einen Tag in der Woche im Studium freinehmen, um als bezahlte Aushilfe in einem Berufskolleg einzuspringen.
Blended Learning. Die Sekundarschule Bertolt Brecht in Leuna geht gerade im Alleingang einen Modellversuch an: Mathe und Deutsch werden im sogenannten Blended Learning (gemischten Lernen) angeboten. Dabei wechseln sich Präsenzphasen und digitale Lernzeiten ab. Der Vorteil: In den Solo-Lern-Phasen können die Schüler von Studierenden oder Freiwilligendienstlern beaufsichtigt werden.
Aber was, wenn solche neuen Ansätze keine Entlastung bringen? Dann werde man dem aktuellen Personal noch mehr abverlangen, fürchtet Lehrer Michel. Dabei seien schon jetzt viele Kollegen am Limit. Der Stress im Job ist sicher auch ein Grund dafür, dass die Teilzeitquote der Lehrkräfte bei knapp 40 Prozent liegt. Zum Vergleich: Von allen Beschäftigten in Deutschland arbeiten nur 28 Prozent in Teilzeit. Schulministerien, die wegen ausfallender Stunden unter Druck geraten, sehen hier einen Hebel für mehr Unterricht. Wie viel Druck im Kessel ist, zeigt das neue Schulbarometer der Robert-Bosch-Stiftung: Danach gefragt, was das größte Problem an ihrer Schule sei, antworten 67 Prozent der Schulleiter: der Personalmangel.
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