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Standort Deutschland

Alles klar zur Energiewende?

Grüner, günstiger, schneller: Der Lagecheck zu Deutschlands großem Energieumbau

von Michael Aust und Stephan Hochrebe

· Lesezeit 8 Minuten.
Zwischen Klimazielen und Kosten: Die Regierung sucht Tempo für ihren ambitionierten energiepolitischen Kurs. Foto: Massimo Cavallo – stock.adobe.com (4)

Es ist die vermutlich größte Aufgabe dieser Generation: die Umstellung der kompletten (Welt-)Wirtschaft auf eine CO2-neutrale Produktion. Treiber des Ganzen ist der Klimawandel. Der wird bekanntlich durch jedes Kohlendioxid-Molekül mehr in der Atmosphäre angeheizt, mit den bekannten Folgen wie Extremwetter, schmelzende Gletscher und Dürren. Aber wie macht man ein ganzes Land klimaneutral, ohne dass Arbeitsplätze verschwinden? 

Deutschlands Antwort darauf heißt Energiewende: also der Verzicht auf die Nutzung fossiler und die Umstellung auf „grüne“ Energieträger in den Sektoren Strom, Verkehr, Gebäude und Industrie. Im Jahr 2045 soll dieses Giga-Projekt beendet und Deutschland klimaneutral sein. So steht es seit 2021 im Klimaschutzgesetz. Und so hat es die neue Regierung in ihrem Koalitionsvertrag noch einmal bekräftigt. 

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Wie ambitioniert die Pläne sind, zeigen zwei Zahlen: Um mindestens 88 Prozent will Deutschland seine Treibhausgas-Emissionen bis 2040 gegenüber dem Stand von 1990 senken. Und schon 2030 sollen 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen stammen. Höchste Zeit also für eine Bestandsaufnahme der Energiewende: Wo stehen wir beim Hochlauf der Erneuerbaren? Was macht Hoffnung, was muss schneller gehen? Und wie geht es den Betrieben in Deutschland dabei? 

Wir haben den Check gemacht und uns die vier Stellschrauben der Energiewende angeschaut: Produktion, Infrastruktur, Verbrauch und Preise. Neueste Daten zeigen ein gemischtes Bild. Positiv: Heute stammen bereits fast zwei Drittel des Stroms in Deutschland aus regenerativen Quellen. Negativ: Von der geplanten Wasserstoff-Wirtschaft sind bislang nur zarte Pflänzchen zu sehen. 

Bei den großen Stromtrassen und Fernwärmenetzen ist ebenfalls noch viel zu tun. Und dass die Industrie heute weniger Energie verbraucht als im Coronajahr 2021, ist nur auf den ersten Blick eine gute Nachricht: Viele sehen darin den Beleg einer beginnenden De-Industrialisierung.  

2024 stand laut dem KfW-Energiewende-Monitor eine große Mehrheit der Beschäftigten in Deutschland hinter der Energiewende. Damit das so bleibt, müssen Strom und Gas aber bezahlbar bleiben. Ein Blick auf die Preise zeigt: Da ist noch viel Luft nach unten.

 

Produktion – grüner wird’s noch

Bei der Windkraft wird Deutschland seine Ziele wohl reißen

Die Ziele: Laut Klimaschutzgesetz soll der Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttostromverbrauch 2030 mindestens 80 Prozent betragen. Die Bundesregierung hat dafür im Erneuerbare-Energien-Gesetz und im Windenergie-Gesetz feste Ausbauziele formuliert: Bis 2030 sollen Solaranlagen mit einer Leistung von 215  Gigawatt (GW) installiert sein (bis 2045 dann 400 GW). Bei der Windkraft soll die Leistung bis 2030 auf 145  GW ausgebaut werden (2045 auf 230  GW). Zum Vergleich: Windräder an Land haben typischerweise eine Leistung von 2  bis 6  Megawatt (MW), Offshore-Anlagen im Meer zwischen 6  und 15 MW. Um die Ziele zu erreichen, sollen bis 2032 2 Prozent der Bundesfläche für Windkraft ausgewiesen werden. 

Der Stand: Beim Kohleausstieg liegt Deutschland im Plan. Bereits 2024 gingen in 15 Kohlekraftwerken die Lichter aus. NRW will 2030 alle abschalten, Brandenburg und Sachsen-Anhalt planen das für 2038. Deutschlands letzte Atommeiler sind bereits seit zwei Jahren vom Netz. Das spiegelt sich im Strommix: Erneuerbare Energien haben hier im ersten Halbjahr 2025 einen Anteil von 61  Prozent – ein neuer Rekord.

Ob das Ausbautempo reicht, um die Klimaziele zu erreichen, ist dennoch fraglich. Die bisher installierten PV-Anlagen etwa haben eine Leistung von 111 GW – binnen fünf Jahren müsste sich dieser Wert verdoppeln. Forscher des Energiewirtschaftlichen Instituts der Uni Köln halten das im aktuellen Monitoring-Bericht zur Energiewende für machbar. Anders sieht es bei der Windkraft an Land aus: Sie steuert bislang erst 75 GW bei – bis 2030 müssten es 115 sein. 

„Die Szenarien gehen nicht davon aus, dass das erreicht wird“, heißt es im Bericht. Immerhin: 2024 wurden so viele Windräder genehmigt wie nie zuvor. Beim Wasserstoff liegt die Elektrolyse-Kapazität laut der Deutschen Energie-Agentur aktuell bei 0,17  GW. Ziel sind laut der Nationalen Wasserstoffstrategie bis 2030 aber 10 GW! Auch Wärme aus regenerativen Energien wächst nur langsam. Erneuerbare tragen in Deutschland derzeit rund 18 Prozent zur Wärmeversorgung bei – 80  Prozent davon werden mit Biomasse erzeugt.

Unser Fazit: Es geht voran, aber bei Wind, Wärme und vor allem Wasserstoff stottert der Hochlauf.

 

Die Infrastruktur wird teurer 

Weil vieles gleichzeitig gebaut wird, steigen die Preise 

Die Ziele: Deutschland will laut Bundesbedarfsplangesetz in den nächsten zehn Jahren 16.702  Kilometer Stromtrassen bauen. Zeitgleich sollen regionale Netze für Fernwärme und ein Wasserstoffkernnetz entstehen. Geplant ist, dass dafür bis 2028 mehr als 1.800 Kilometer Gasleitungen umgestellt oder neu installiert werden.

Der Stand: Beim Ausbau der Übertragungsnetze an Land sieht der Monitoring-Bericht der Regierung Deutschland im Plan. Die große Trasse SuedLink etwa soll ab Ende 2028 Strom mit einer Kapazität von 4  GW transportieren. Ein Problem für die Netze ist der bisherige „Wildwuchs“: Der Zubau von Ökostromanlagen müsse künftig „besser räumlich gesteuert werden“, mahnen die Forscher. Sprich: Anlagen sollten in Zukunft vor allem da entstehen, wo sie dem Netz helfen, statt es zu belasten. 

 

 

Auch bei den Kosten muss wohl nachkalkuliert werden. Gründe sind laut Monitoring-Bericht „angespannte Lieferketten“ und der gleichzeitige Zubau an vielen Stellen. Den Forschern zufolge könnte der Netzausbau eher 440 statt der geplanten 320 Milliarden Euro kosten. Gebaut werden müssen auch wasserstofffähige Gaskraftwerke, die einspringen, wenn es an Sonne und Wind mangelt. Das Wasserstoffnetz wurde im Herbst 2024 von der Bundesnetzagentur genehmigt – gebaut wurde bislang noch nicht.  
Unser Fazit: Netze und Produktion müssen besser aufeinander abgestimmt werden.  

 

Verbrauch noch unsicher  

Deutschland braucht künftig mehr Strom – aber wie viel genau, 
hängt von vielen Faktoren ab

Die Ziele: Deutschland soll sich weiter elektrifizieren. Die Folge sind höhere Stromverbräuche in allen Bereichen von Verkehr (E-Autos) über Gebäude (Wärmepumpen) bis hin zur Industrie. Wie viel höher genau, das hängt von vielen Faktoren ab – und ist schon deshalb gesetzlich nicht vorgegeben. 

Trotzdem ist der erwartete Bruttostromverbrauch eine wichtige Richtschnur für die Planung von Leitungen oder Kraftwerken. Bei der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes 2023 ging die Politik von einem Stromverbrauch von 750 Terawattstunden (TWh) im Jahr 2030 aus. Die aktuelle Regierung erwartet in fünf Jahren nur noch 600 bis 700 TWh – und „eher am unteren Ende dieses Korridors“, wie Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) kürzlich erklärte. 

Der Stand: Obwohl Deutschland auf dem Weg der Energiewende ist, sinkt der Stromverbrauch schon seit Jahren. Mit 518 TWh hat das Land 2024 sogar weniger Strom verbraucht als in den Coronajahren. Das liegt an Effizienzsteigerungen – aber leider auch an einem Rückgang der Industrieproduktion. Sprich: Die deutsche Wirtschaft schrumpft! 

Dass der Monitoring-Bericht der Bundesregierung den für 2030 erwarteten Verbrauch jetzt nur noch auf 600 bis 700 TWh beziffert, liegt auch am absehbaren Verzug der Energiewende: Wird weniger Wasserstoff produziert und fahren weniger E-Autos, brauchen wir in fünf Jahren eben auch weniger Strom.

Unser Fazit: Der künftige Verbrauch ist zentral für die Planung der Energiewende. Ihn jetzt realistisch zu bestimmen, ist gut.

 

Preise hoch, weil Effizienz fehlt

Betriebe und Verbraucher könnten beim Strom entlastet werden

Der Stand: Strom ist bei uns viel teurer als in den meisten Industriestaaten. Das liegt wesentlich an saftigen, staatlich bedingten Aufschlägen: Netzentgelte für den Betrieb des Stromnetzes sowie verschiedene Steuern, Abgaben und Umlagen. Diese Posten machten laut Statistischem Bundesamt zuletzt satte 52 Prozent vom Strompreis für Unternehmen aus.

Getrieben werden die „Zusatzkosten“ durch den notwendigen Umbau des Energiesystems: Deutschland will schließlich am Ziel der Klimaneutralität bis 2045 festhalten. Werden dadurch Industriebetriebe zu Produktionsstilllegungen, Schließungen und Auslandsverlagerungen gezwungen? Mut macht eine aktuelle Studie des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) und des Beratungsunternehmens BCG: Sie nennt insgesamt 20 Hebel, wie die Energiewende deutlich kostengünstiger ausfallen könnte als aktuell absehbar. 

„Alles in allem ist die Energiewende teuer und ineffizient“, sagt Holger Lösch, stellvertretender BDI-Hauptgeschäftsführer. Durch Optimierungen ließen sich bis zum Jahr 2035 Investitionen in Höhe von rund 370  Milliarden Euro einsparen, ohne bestehende Klimaziele zu gefährden. „Zugleich könnten auf diesem Weg die Stromkosten für Industrie und private Verbraucher um fast 20  Prozent sinken“, stellt die Studie in Aussicht.

Der darin aufgeführte Hauptkritikpunkt: Die geplanten Investitionen in Erneuerbare, Stromnetze und Wasserstoff gingen über die ursprünglich bis 2030 angenommene Nachfrage hinaus. Auch würden Einsparmöglichkeiten etwa beim Netzausbau bisher oft nicht genutzt. Notwendig sei, die „Planung an die Realität anzupassen“. 

Die Ziele: Die Politik hat eine wettbewerbsfähige Energieversorgung auf die Agenda gesetzt. So legte Wirtschaftsministerin Katherina Reiche kürzlich einen Zehn-Punkte-Plan vor, der Leitlinien zur Nachbesserung der Energiepolitik skizziert. Mitte November einigte sich die Koalition zudem auf einen sogenannten Industriestrompreis: Energieintensive Unternehmen können demnach ab 2026 mit einem reduzierten Strompreis kalkulieren – sofern die EU dem zustimmt.

Unser Fazit: Höchste Zeit, dass die Politik handelt.

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