Portal für Beschäftigte in der Kautschuk- und Kunststoffindustrie

Gesundheits-Tipps

Smarte Sicherheit

Virtuelle Realität kann helfen, Unfälle oder Fehlhaltungen im Betrieb zu vermeiden

· Lesezeit 5 Minuten.

Magdeburg. In einer Werkhalle hebt ein Mitarbeiter Metallplatten vom Boden. Er trägt einen Gürtel und schwarze Bänder um Ellenbogen, Beine und Kopf. Darin stecken Sensoren, die jede seiner Bewegungen vermessen und in Echtzeit auf einen Avatar übertragen. Auf einem Monitor vor ihm führt dieser digitale Zwilling deshalb dieselben Bewegungen aus wie er. Der Clou: Ist eine Haltung ungesund, erscheint der betroffene Körperteil rot, und der Mitarbeiter kann seine Bewegung ändern.  

Die Software des Start-ups Scalefit ist nur eine von vielen neuen Anwendungen, die den Arbeitsschutz in Unternehmen verbessern sollen. „Vision Zero“, null Arbeitsunfälle und arbeitsbedingte Erkrankungen, heißt das Ziel, das die Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit ausgerufen hat. Dabei wird die deutsche Wirtschaft hier seit Jahren besser: Den jährlichen Erhebungen des Verbands Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) zufolge gab es im Jahr 2024 rund 712.265 meldepflichtige Arbeitsunfälle – 2015 waren es noch 835.000. „Zu verdanken ist das dem immer besseren Arbeitsschutz in den Betrieben“, sagt Professor Rolf Ellegast, Direktor des Instituts für Arbeitsschutz (IFA) der DGUV. „Aber wir können noch an mehreren Stellschrauben drehen, um diese Zahlen zumindest für die schweren Arbeitsunfälle weiter Richtung null zu senken.“ 

Was sagen Fachleute und wohin geht die Entwicklung? Wir haben nachgefragt – das sind die wichtigsten Trends im Arbeitsschutz:

 

Virtuelle Realität

Virtuelle Realität (VR) kommt im Arbeitsschutz immer öfter zum Einsatz – die gesunkenen Preise für VR-Brillen machen’s möglich. „Vor allem Pflichtelemente wie die jährliche Sicherheitsunterweisung lassen sich mit VR viel attraktiver und realitätsnäher gestalten“, erklärt Ronny Franke vom Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung (IFF) in Magdeburg. 

Konkret funktioniert das zum Beispiel so: Statt einer ermüdenden Power-Point-Präsentation zu lauschen, spielen Mitarbeiter kritische Situationen einfach in der virtuellen Realität durch. „Man setzt sich eine VR-Brille auf, läuft durch die virtuelle Fabrik und tut exakt die Dinge, die man sonst auch tun würde“, sagt Franke. Bei Fehlern sind die Folgen direkt erlebbar – etwa durch eine Explosion in der digitalen Chemiefabrik. „Das ist ein starker Lerneffekt, der sehr nachhaltig ist“, sagt Franke. „Es ist wie mit der Hand auf der heißen Herdplatte. Daran erinnert man sich nachher ziemlich gut.“

Das IFF testet VR auch in seinem aktuellen Projekt „AI-Storytelling“. „Dabei lassen wir ältere Mitarbeiter ihr Wissen etwa über Maschinen und Anlagen weitergeben“, erklärt Franke. Im demografischen Wandel ist eine solche Know-how-Sicherung ein Beitrag zur Arbeitssicherheit. „An dieses implizite Wissen kommt man viel besser, wenn man Menschen per VR-Brille in ihre Arbeitssituation versetzt. Da sprudeln die Gedanken besser als im Besprechungsraum.“

 

Künstliche Intelligenz

Auch der Megatrend künstliche Intelligenz (KI) kommt immer stärker im Arbeitsschutz an. „KI kann neben einer Verbesserung des technischen Arbeitsschutzes Gefahrensituationen vorhersagen, Mitarbeiter über Kameras und Sensoren tracken und warnen, bevor Situationen brenzlig werden“, sagt IFA-Direktor Rolf Ellegast. All das werde in asiatischen Fabriken schon genutzt. „Auf einer Baustelle in Singapur erkennt die KI automatisch, welcher Arbeiter keinen Helm trägt. Das hat dort zu erhebliche Rückgängen bei den Unfallzahlen geführt“, sagt Ellegast.

Allerdings: In Deutschland wäre so etwas aus Datenschutzgründen undenkbar. „Was eventuell denkbar wäre: eine anonymisierte Auswertung von Beinahe-Unfällen, um anschließend gezielte Präventionsmaßnahmen einzuleiten“, glaubt der IFF-Direktor. Damit könnte man etwa Stolper-, Rutsch- und Sturzunfällen – eine der häufigsten Unfallarten in Betrieben – besser vorbeugen.

 

Menschliche Wertschätzung

Ein Fokus der aktuellen Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie liegt auf dem Thema „Gefährdungen durch psychische Belastung“. Laut DGUV-Umfrage erwarten 62 Prozent der Beschäftigten, dass diese Belastungen in Unternehmen künftig zunehmen. „Deshalb ist es gut, dass immer mehr Firmen psychische Faktoren bei der Gefährdungsbeurteilung mitdenken und Schlüsse daraus ziehen“, findet Stephan Sandrock, Leiter des Fachbereichs Arbeits- und Leistungsfähigkeit im ifaa – Institut für angewandte Arbeitswissenschaft

Dabei müsse man psychische Belastung aber von psychischen Krankheiten unterscheiden: „Wenn jemand psychisch krank wird, gibt es dafür meist ein ganzes Bündel an Ursachen“, erklärt Sandrock. Dass Arbeit krank mache, dafür gebe es keine Belege: „Im Gegenteil. Arbeit schützt und stärkt oft die psychische Gesundheit.“

Eine wichtige Rolle beim Erhalt der psychischen Gesundheit spielen die Führungskräfte. „Sie müssen Verhaltensänderungen bei Mitarbeitern erkennen können und ansprechen“, sagt Sandrock. Stabilisierend wirke auch Wertschätzung. „Regelmäßiges Feedback ist für die Motivation extrem wichtig“, sagt Sandrock. „Das fängt schon damit an, dass man sich im Betrieb regelmäßig begrüßt und auch mal fragt: Wie geht’s dir denn?“

 

Anderes Verhalten

Das zeigt: Nicht nur neue Tools können krankheitsbedingte Fehlzeiten und Unfallzahlen in Betrieben weiter senken. Oft reicht es schon, wenn Mitarbeiter ihre eingespielten Routinen hinterfragen. „Technologisch und organisatorisch haben wir schon einiges gelöst. Wo noch Musik drin ist, ist die verhaltensbasierte Arbeitssicherheit“, vermutet ifaa-Experte Sandrock.

Ein Beispiel: „Wenn es für den Mitarbeiter schneller geht, mit einem Drehstuhl ans Regal zu gehen, als eine Leiter zu holen, dann steigt er halt auf den Stuhl“, sagt Sandrock. „Da müssen wir an der Einsicht ansetzen, dass ein bestimmtes Verhalten sicherer ist. Und positive Verhaltensweisen lernen.“ Denn letztlich könne Arbeitsschutz nur funktionieren, wenn jeder mitmacht.

  • PDF