Kautschuk-Konjunktur

Runderneuerung: Lang lebe der Reifen!

In den 80ern, als von Kreislaufwirtschaft noch keine Rede war, nutzten sie viele: runderneuerte Reifen. Jetzt füllen sie nur eine Nische. Warum eigentlich? Und wo liegen ihre Vorteile?

von Roman Winnicki

· Lesezeit 5 Minuten.

Allein in Deutschland fallen nach Angaben der Initiative Zare (Zertifizierte Altreifen-Entsorger) Jahr für Jahr über 600.000 Tonnen beziehungsweise 60 Millionen Altreifen an. Würden sie alle aneinandergelegt, käme man einmal um den Erdball. Diese gewaltige Menge darf europaweit allerdings nicht einfach auf Deponien abgekippt werden, sondern wird exportiert, recycelt oder zur Energiegewinnung im Brennofen verheizt.

Dabei sind sie vollgepackt mit wertvollen Rohstoffen wie Gummi, Stahl und Textilfasern. Altreifen können zwar zu großen Teilen wieder in den Wertstoffkreislauf zurückgeführt werden. Die bekanntesten Beispiele sind Sportplatzböden, Gummiasphalt oder Dämmmatten. Nach Ansicht von Experten sind das aber nur die zweitbesten Lösungen fürs Recycling: Denn gebrauchten Reifen kann erst mal ein zweites oder drittes Leben eingehaucht werden, bevor sie in ihre Bestandteile zerlegt werden.

Reifen dürfen bis zur gesetzlich erlaubten Mindestprofiltiefe von 1,6 Millimetern gefahren werden. Je nach Fahrstil ist beim Pkw nach 40.000 bis 50.000 Kilometern Schluss, und der Lebenszyklus des Autoreifens kommt an sein Ende. Anschließend wird in 99 Prozent der Fälle ein neuer gekauft und aufgezogen. Lkw-Pneus hingegen spulen im Schnitt vier- bis fünfmal so viele Kilometer ab, und Flugzeugreifen können etwa 150 Starts und Landungen standhalten. Nur werden im Gegensatz zum Pkw die alten Reifen oftmals nicht einfach entsorgt oder recycelt. Spezialisierte Fachbetriebe können sie für den Einsatz auf der Auto- und Landebahn wieder flottmachen.

In der Imagefalle

Während im Bereich der Nutzfahrzeuge die Runderneuerung zunehmend an Bedeutung gewinnt, scheuen vor allem Pkw-Fahrer den wiederaufbereiteten Pneu. „Aufseiten der Verbraucher halten sich zum Teil immer noch längst überholte Vorurteile gegenüber runderneuerten Reifen“, sagt Michael Schwämmlein, Geschäftsführer Technik beim Bundesverband Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk (BRV).

Was er damit meint: Die Runderneuerungsindustrie steckt in der Imagefalle. Ursprung des schlechten Rufs sind Uralt-Tests, in denen runderneuerte Pkw-Reifen häufig nicht überzeugen konnten. In den Köpfen der Autofahrer verankerten sich so Zweifel an der Qualität, Sicherheit und Leistung instand gesetzter Reifen. Dabei gilt die Runderneuerungstechnologie, in der modernste Maschinen zum Einsatz kommen, als ausgereift. Und nicht umsonst werden Flugzeugreifen, für die höchste Sicherheitsstandards gelten, bis zu zwölfmal runderneuert, bevor sie ausgetauscht werden.

Mögliche Sicherheitsbedenken sind aber nicht der einzige Grund für die verhaltene Nachfrage nach überholten Reifen. Laut dem BRV stehen diese auch in Konkurrenz zu Billig-Neureifen aus Asien. Der manuelle Arbeitsaufwand beim Runderneuern sei hoch und Importware daher für weniger Geld zu haben. Dessen ungeachtet sieht Schwämmlein aber einen entscheidenden Vorteil: „Runderneuerte Reifen sind sozusagen das Paradebeispiel für Kreislaufwirtschaft in der Mobilitätsbranche.“

Runderneuerung in der Nische

Ein Blick in die Daten verdeutlicht, dass die Reifenrunderneuerung nicht sonderlich weit verbreitet ist. Nach Angaben des BRV wurden im vergangenen Jahr in Deutschland rund 46,3 Millionen Reifen verkauft. Pkw-, 4x4- und Leicht-Lkw-Reifen vereinen dabei neun Zehntel des Absatzmarktes auf sich. Runderneuerte Pneus spielen in diesem Segment mit einem Verkaufsanteil von unter 1 Prozent jedoch nur eine marginale Rolle. Und die Anzahl der Runderneuerungsbetriebe für Pkw-Reifen belegt das Nischendasein: Bundesweit gibt es nur einen einzigen.

Weniger finster sieht es im Segment der Nutzfahrzeuge aus. 2022 wurden insgesamt rund 3,1 Millionen Lkw-Reifen verkauft, darunter auch solche für Bau- und Landwirtschaftsfahrzeuge – sogenannte EM-Reifen (Erdbewegungsmaschinen). Davon entfiel auf Runderneuerte ein Stückabsatz von knapp 30 Prozent. Bis zu dreimal kann ein Lkw-Reifen runderneuert werden. In Laufleistung umgerechnet, könnte ein Pneu so die Marke von 500.000 Kilometern und mehr erreichen. Für runderneuerte Pkw-Reifen sind die Vorgaben strenger. Sie dürfen nur einmal runderneuert werden.

Weniger von allem

Lohnt sich die Runderneuerung und ist sie auch nachhaltig? Laut Branchennetzwerk Allianz Zukunft Reifen (Azur) rechnet sie sich in jedem Fall: Ein aufbereiteter Lkw-Reifen kann rund ein Drittel günstiger sein als ein neuer Premiumreifen. Beim Klima- und Umweltschutz fahren Runderneuerte ohnehin auf der Überholspur: Laut einer Fraunhofer-Studie für Azur verursacht die Produktion von Neureifen bis zu 60 Prozent mehr Treibhausgase als die Runderneuerung.

Außerdem wird beim Runderneuern nur die Hälfte der Energie verbraucht, und es werden rund zwei Drittel weniger Ressourcen benötigt. Im Falle eines Lkw-Reifens entspricht das einer Rohstoffersparnis von über 44 Kilogramm. Der Bundesverband Reifenhandel rechnet zudem vor, dass im Vergleich zum Neureifen rund 80 Prozent weniger Wasser und bis zu 70 Prozent weniger Rohöl benötigt werden.


Wenn Altreifen länger rollen, werden jedoch nicht nur Umwelt und Ressourcen geschont, sondern auch Arbeitsplätze geschaffen. Wie aus einer Studie der Unternehmensberatung EY hervorgeht, sorgt die Runderneuerung europaweit für etwa 32.000 Jobs. Und „bei gleichwertiger Nutzung unterstützt ein runderneuerter Reifen 4,3-mal so viele Arbeitsplätze wie ein nicht runderneuerbarer Importreifen“, schätzen die Studienautoren. Es sprechen also sowohl ökologische als auch ökonomische Vorteile für runderneuerte Reifen.

Das Verfahren

Grundvoraussetzung für die Runderneuerung eines abgefahrenen Reifens ist, dass der Unterbau (Karkasse) intakt ist.

(1)  Bevor eine Karkasse in die Wiederaufbereitung kommt, wird sie einer manuellen Sicht- und Tastprüfung unterzogen und bei Beschädigung aussortiert. Anschließend erfolgt die „Shearografie-Prüfung“: Der Altreifen wird per Laserlicht abfotografiert. Was das Auge nicht sieht, wird dadurch sichtbar gemacht, etwa eingedrungene Teile, Lufteinschlüsse oder Feuchtigkeit. Ungeeignete Karkassen werden dann ebenfalls aussortiert.

(2)  Im nächsten Schritt wird das alte Profil des Reifens abgeraut. In der Regel geschieht das durch computergesteuerte Raumaschinen. Bei Sondergrößen wie EM-Reifen wird auch händisch geraut.

(3)  Danach erfolgt die Reparatur von Gummi- und Unterbaubeschädigungen. Dazu gehören beispielsweise Durchschlags- und Wulstreparaturen oder der Einbau von Nagellochpflastern. Jetzt ist der Reifen bereit für die Runderneuerung. Erneuert werden ausschließlich die Lauffläche und die Flanken.

(4)  Grundsätzlich wird von diesem Punkt an zwischen der Heiß- und die Kalterneuerung unterschieden. Die Heißerneuerung eignet sich gleichermaßen für Pkw- und Nutzfahrzeugreifen. Hierbei wird eine rohe (unvulkanisierte) Gummimischung auf die Karkasse aufgetragen. Der so entstandene Rohling wird im Anschluss in einer Heizform bei etwa 165 Grad für mehrere Stunden vulkanisiert, also Druck und Hitze ausgesetzt, und erhält dabei sein Profil.

Das Kalterneuerungsverfahren kommt nur bei Nutzfahrzeugen zum Einsatz. Anstelle einer rohen Gummimischung wird ein vorvulkanisierter und bereits profilierter Laufstreifen auf den Reifen aufgebracht. Verpackt in einer Gummihülle wird er hierauf unter Vakuum gesetzt. Es folgt die rund vierstündige Vulkanisation im Heizkessel – Autoklav genannt – bei einer Temperatur von 95 bis 110 Grad. Nach beiden Verfahren erfolgt zum Schluss noch eine letzte Prüfung. Dann ist der Reifen bereit für den Einsatz.

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