Standort Deutschland

Sternstunde für Europa

Bald wählt Europa sein zehntes Parlament. Der Urnengang ist so wichtig wie nie. Denn wenn Deutschland eines braucht, dann ist es: eine starke, demokratische EU

von Ulrich Halasz, Michael Aust, Friederike Storz und Hans Joachim Wolter

· Lesezeit 7 Minuten.
Gemeinsam für ein starkes Europa: Bei der Wahl am 9. Juni werden entscheidende Weichen gestellt – auch für unsere Industrie. Illustration: RocknRoller Studios – stock.adobe.com

Knapper Monat noch, dann zählt’s – am 9. Juni ist Europawahl! Ein Urnengang in unruhigen Zeiten. Kriege, Klimawandel, die wirtschaftliche Lage, Migration, Inflation. Folge der gefühlten Dauerkrise: eine erschöpfte Gesellschaft, sinkendes Vertrauen darin, dass die demokratischen Institutionen das alles in den Griff kriegen. 

Beleg dafür: Laut Eurobarometer gibt eine knappe Mehrheit der Deutschen an, der Bundesregierung eher nicht mehr zu vertrauen. Immerhin: 65 Prozent der Deutschen sprechen der Europäischen Union noch ihr Vertrauen aus. Das macht Mut. Denn wenn es in diesen Tagen auf eines ankommt, dann auf ein geeintes, starkes und demokratisches Europa.

„Nur gemeinsam, als vereintes Europa, stehen unsere Chancen gut, die Herausforderungen zu bewältigen“, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. „Jeder, der zur Wahl geht, leistet einen Beitrag für unsere Demokratie.“ Eine niedrige Wahlbeteiligung helfe nur den Extremisten, „jenen Kräften also, die Europa zerstören wollen“. 

Ein schwaches Europa – gerade für uns Deutsche wären die Folgen fatal. Von den Errungenschaften der EU profitiert unser Land in besonderem Maße, wie die Texte in diesem Schwerpunkt zeigen. Denn Europa – das betrifft uns alle. Auf dem Schulhof, in den Werkhallen und Büros, im Ruhestand, im Urlaub, im Geldbeutel. Überall. 

Klar: Nicht alles, was die EU anpackt, ist Gold. Die Bürokratie nervt Bürger wie Wirtschaft. Es gibt Reformbedarf, Schwächen, die behoben werden müssen. Jeder wahlberechtigte EU-Bürger kann hier am 9. Juni dazu beitragen, dass genau das gelingt.

Gast mit Perspektive: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj während des EU-Gipfels. Sein Land strebt die Mitgliedschaft an. Foto: IMAGO IMAGES/ZUMA Wire

Gast mit Perspektive: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj während des EU-Gipfels. Sein Land strebt die Mitgliedschaft an. Foto: IMAGO IMAGES/ZUMA Wire

Gemeinsam ist man stärker

Keine Frage: Die Sicherheitslage in Europa hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. „Russland bedroht Europa durch seinen Krieg in der Ukraine und hybride Angriffe auf die EU-Mitgliedsstaaten“, warnte EU-Chefdi­plomat Josep Borrell kürzlich in Brüssel. 

Umso mehr Bedeutung kommt daher heute der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu. Einer aktuellen Umfrage zufolge sehen fast 70 Prozent der Deutschen die EU als Friedensgarant in Europa. An Dringlichkeit gewonnen hat auch die Frage, ob die EU-Staaten in der Verteidigungspolitik noch enger zusammenarbeiten – oder gar eine gemeinsame Streitmacht aufstellen sollten. Erstaunlich: 59 Prozent der Bundes­bürger sprechen sich aktuell für eine solche Armee der EU-Staaten aus. 

Übrigens: Europa arbeitet nicht nur in Sachen Verteidigung zusammen. Auch Europol, das „europäische Polizeiamt“, stimmt die Polizeiarbeit der Mitgliedsstaaten untereinander ab. Schwere Kriminalität und Terrorismus lassen sich europaweit so deutlich besser bekämpfen. Und seit dem Jahr 2021 verfolgt zudem eine Europäische Staatsanwaltschaft Straftaten wie Betrug, Korruption und Geldwäsche. All das könnte ein Land alleine nicht erreichen.

Wichtiger Stabilitätsanker: Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main. Foto: IMAGO IMAGES/greatif

Wichtiger Stabilitätsanker: Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main. Foto: IMAGO IMAGES/greatif

Vom „Teuro“ zum Turbo

Erst Brexit, dann Dexit? Bloß nicht! Der von Populisten propagierte Ausstieg Deutschlands aus der EU würde unsere Wirtschaft innerhalb weniger Jahre wohl um geschätzte 6 Prozent weniger wachsen lassen. Das hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) ausgerechnet. Nach 10 bis 15 Jahren dürfte das Minus gar bei 10 Prozent liegen. „Wir sprechen hier von 400 bis 500 Milliarden Euro Verlust, das wären entgangene Gewinne an Wohlstand von Tausenden Euro pro Kopf“, so IW-Direktor Professor Michael Hüther. 

Grund: Bei einem Austritt verlöre Deutschland nicht nur den Zugang zum Binnenmarkt, dem größten Handelsblock der Welt. Sondern auch den Euro. Und das wäre bitter. Zwar legte die europäische Gemeinschaftswährung nicht unbedingt einen Bilderbuchstart hin und galt anfangs schnell als „Teuro“. In der Folge jedoch mauserte sich der Euro nicht nur zur am zweithäufigsten verwendeten Währung der Erde, sondern erwies sich als Turbo für den EU-Binnenmarkt. 

Müsste Deutschland die Währungsunion verlassen, drohte die Rückkehr früherer Wechselkursrisiken. Die Unternehmen müssten dann jedes Jahr erhebliche Kosten für Transaktionen aufwenden – und die Preise für Verbraucher hierzulande würden weiter steigen. Auch weil die Europäische Zentralbank (EZB) der deutschen Inflation dann nicht mehr entgegenwirken könnte.

Lollapalooza-Festival: Auch dieses populäre Musik-Event wird von der EU unterstützt. Foto: IMAGO IMAGES/Votos-Roland Owsnitzki

Lollapalooza-Festival: Auch dieses populäre Musik-Event wird von der EU unterstützt. Foto: IMAGO IMAGES/Votos-Roland Owsnitzki

Zwischen Party, Pizza und Paella

9°54‘07“ östliche Länge, 49°50‘35“ nördliche Breite: Der Mittelpunkt Europas liegt in Gadheim, einem Örtchen in Bayern. Sonnigster Fleck ist Valletta, die Hauptstadt von Malta, mit rund 3.000 Sonnenstunden pro Jahr. Paris hat dafür die meisten Touristen (knapp 20 Millio­nen), ab Frankfurt ist man mit ICE und TGV in gerade mal 3:40 Stunden da. Seit über 50 Jahren verbindet Interrail Europas Schienen. 600.000 Reisende lernen so jedes Jahr Kultur und Länder Europas kennen.

Hola, Bonjour, Buongiorno, zwei Dutzend Amtssprachen und noch mehr regionale Sprachen hat die EU. Paella, Pizza und Zimtschnecken, von Süd nach Nord kann man sich durch Europas Küche futtern. Party ist bei den zahlreichen europäischen Musikfestivals angesagt, von denen die EU viele finanziell fördert. Ebenfalls eine Reise wert: Europas Kulturhauptstädte. Aktuell sind das Galway (Irland) und Rijeka (Kroatien).

Einfach rüber: Grenzübergang zwischen Deutschland und Polen bei Frankfurt an der Oder. Foto: MAGO/Jürgen Ritter

Einfach rüber: Grenzübergang zwischen Deutschland und Polen bei Frankfurt an der Oder. Foto: MAGO/Jürgen Ritter

Keine Schranken – für Bürger und Waren

Der EU-Binnenmarkt und die Arbeitnehmerfreizügigkeit sind Eckpfeiler des europäischen Projekts – und spielen eine entscheidende Rolle für unsere Wirtschaft! Denn Europa ist tatsächlich unser wichtigster Handelspartner. 55 Prozent unserer Exporte gingen 2022 laut Statistischem Bundesamt in die anderen EU-Länder. Fast jeder vierte Arbeitsplatz in Deutschland hängt vom Export ab.  

Möglich macht das der sogenannte EU-Binnenmarkt. Der bietet deutschen Firmen einfachen Zugang zu rund 450  Millionen Verbrauchern in den 27 Mitgliedsstaaten. Vorstellen kann man ihn sich wie einen gigantischen Supermarkt, ohne Schranken, ohne Zölle. Gäbe es ihn nicht, müssten wir Handelsverträge mit jedem Land einzeln aushandeln. Auch der Handel mit Schwergewichten wie den USA oder China wäre viel komplizierter, schließlich kann die EU als Gemeinschaft ihnen gegenüber mit viel mehr Power auftreten als ein Land allein. Und da ist noch mehr: Nicht nur Waren, Dienstleistungen und Kapital dürfen in der Union frei verkehren. Auch EU-Bürger können in einem anderen Mitgliedsland arbeiten, studieren oder eine Ausbildung absolvieren. Und genießen dabei dieselben Rechte wie Inländer. 2022 machten über sieben Millionen EU-Bürger von der sogenannten Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch. 

Solarpark am Niederrhein: Die EU setzt gegen den Klimawandel auf Ökoenergie. Foto: IMAGO IMAGES/Jochen Tack

Solarpark am Niederrhein: Die EU setzt gegen den Klimawandel auf Ökoenergie. Foto: IMAGO IMAGES/Jochen Tack

Vorreiter bei Klimaschutz

Ökostrom, E-Autos und energieeffiziente Gebäude – darauf legt die EU beim Klimaschutz jetzt den Fokus. 2030 sollen Erneuerbare 42,5 Prozent der Energie liefern, neue Diesel und Benziner wenig später nicht mehr verkauft werden. Das große Ziel: bis 2050 klimaneutraler Kontinent sein.

Die EU setzt dabei sowohl auf Vorschriften als auch auf marktwirtschaftliche Lösungen. Ein Preis für jede ausgestoßene Tonne Klimagas soll Unternehmen und Kraftwerke dazu bringen, die Emissionen zu senken oder auf klimaneutrale Technik umzustellen. Für Gas und Öl zum Heizen sowie Sprit kommt so ein europaweiter CO2-Preis 2027; hierzulande gibt es ihn bereits. Seit 1990 hat die EU ihren Treibhausgasausstoß um fast ein Drittel gesenkt. Sie sieht sich als Vorreiter. In den USA stieg der Ausstoß bis 2005 an, seitdem sank er um ein Fünftel.

Kontakt ins All: Antennen der Europäischen Weltraumorganisation in Luxemburg. Foto: IMAGO IMAGES/ IMAGESalimdi

Kontakt ins All: Antennen der Europäischen Weltraumorganisation in Luxemburg. Foto: IMAGO IMAGES/ IMAGESalimdi

Aufbruch nach morgen

„Förderung des technologischen Fortschritts“ ist eines der Ziele der EU. Klingt gut – aber was heißt das konkret? „Zum einen unterstützt die EU Unternehmen und Forschende mit Förderprogrammen“, erklärt Julian Sommer, Referent für Europapolitik im Institut der deutschen Wirtschaft in Brüssel. „Zum anderen legt sie die Spielregeln fest, nach denen Forschung und Entwicklung stattfinden dürfen.“

Welche Grenzen Entwickler in Europa etwa bei der künstlichen Intelligenz (KI) nicht überschreiten dürfen, ist seit Kurzem im sogenannten „AI Act“ geregelt. Auch bei Genforschung und Datenschutz setzt die EU klare Grenzen. „Oft werden diese Normen dann auf der ganzen Welt übernommen – das nennt man Brüssel-Effekt“, sagt Sommer. 

Bei Themen wie der Solartechnik hat die EU den Anschluss an China verloren. Bei anderen geht sie voran, etwa beim Quanten-Computing: Einige der größten Rechner der Welt werden aktuell in der EU gebaut.

HandyReparatur: Sie soll einfacher und billiger werden. Foto: guruXOX – stock.adobe.com

HandyReparatur: Sie soll einfacher und billiger werden. Foto: guruXOX – stock.adobe.com

Gut für Verbraucher

Handy kaputt? Bald hat jeder das Recht auf Reparatur und Ersatzteile – auch nach Ende der Gewährleistung. Verbraucherschutz ist der EU wichtig. Davon profitiert jeder. Etwa im Auslandsurlaub: Ohne Zusatzgebühren kann man heim­telefonieren oder Geld abheben.

Der private Konsum trägt etwa die Hälfte zur EU-Wirtschaftsleistung bei. Daher setzt Brüssel hier auf einheitliche Regeln. Wettbewerb bei Strom, Gas und Telefon spart Verbrauchern viel Geld. Bei Online-Käufen gilt ein 14-tägiges Rückgaberecht, bei Verspätungen von Bus, Bahn oder Flieger gibt es Entschädigung oder Rückerstattung. Die EU sorgt für sichere und effiziente Produkte, überwacht Chemikalien und regelt den Umweltschutz. Und sie stärkt die Rechte gegen Hassrede im Internet. 

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