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Unsichtbar und unverzichtbar – Gummi

Chirurgische Handschuhe, Herzklappen und Stents: Kautschuk-Elastomere nehmen eine Schlüsselrolle bei medizinischen Behandlungen ein. Das Material gilt als systemrelevant und trägt dazu bei, dass unser Gesundheitssystem reibungslos funktioniert

von Roman Winnicki

· Lesezeit 3 Minuten.
Selbstverständlich und allgegenwärtig: Medizinische Kautschukprodukte dienen unser aller Wohlergehen.

Wer kennt es nicht, das typische Bild vom Besuch beim Arzt: stets ein Stethoskop um den Hals. Das Abhorchen des Körpers – einst mit dem bloßen Ohr gemacht – ist wohl die älteste Untersuchungsmethode in der Medizin. Der Schlauch des Stethoskops besteht heutzutage aus Gummi. Das absorbiert den Schall von außen und lässt den Arzt präziser hören, ob dem Patienten was fehlt.

Zuletzt verdeutlichte die Coronapandemie, wie unverzichtbar der Werkstoff für die medizinische Infrastruktur ist und dass er Leben retten kann. Denn ohne das Material hätte es keine Atemschutzmasken, Beatmungsschläuche oder Stopfen und Dichtungen für die Lagerung von Impfstoffen gegeben. Und obwohl Gummiprodukte so selbstverständlich und allgegenwärtig sind, werkelt die Industrie eher hinter den Kulissen der öffentlichen Wahrnehmung. Dabei reicht die medizinische und wirtschaftliche Bedeutung von Kautschuk Jahrhunderte zurück.

Aus „cahuchu“ wird Kautschuk

Erste Beweise für die Verwendung von Kautschuk können bis ins erste Jahrtausend vor Christus zurückdatiert werden. Die indigenen Völker Südamerikas ritzten zu jener Zeit die Rinde des „ca-hu-chu“ an, was in etwa „weinender Baum“ oder „Baumträne“ bedeutet, um den austretenden milchigen Saft zu gewinnen. Den „Milchsaft“, der heute als Latex bezeichnet wird, verarbeiteten sie zu wasserdichter Kleidung, Schmuck oder nutzten ihn als wertvolles Zahlungsmittel.

Damals wie heute wurde Kautschuk außerdem im Bereich der Heilkunde eingesetzt. So wurden zum Beispiel Behälter und Schläuche gefertigt, um Heilkräuter zu lagern, aber auch um rudimentäre medizinische Geräte wie Katheter, Klistiere und damit Spritzen herzustellen. Historiker gehen zudem davon aus, dass die damaligen Völker Kautschuk aufgrund seiner elastischen und wasserdichten Eigenschaften als Bandagen oder Pflaster zur Wundversorgung genutzt haben könnten.

Mesoamerikanische Ballspiele: Zwei aztekische Spieler 1529 am Spanischen Hof. Quelle: Das Trachtenbuch des Christoph Weiditz

Mesoamerikanische Ballspiele: Zwei aztekische Spieler 1529 am Spanischen Hof. Quelle: Das Trachtenbuch des Christoph Weiditz

Das vermutlich erste Kautschukprodukt, das europäischen Boden erreichte, war allerdings kein medizinisches. Im späten 15. Jahrhundert brachte Christoph Kolumbus aus der Neuen Welt einen Kautschukball mit. Völker wie die Azteken oder Maya verwendeten die Bälle für sportliche Wettbewerbe. Gespielt wurde allerdings nicht mit Hand oder Fuß, sondern mit der Hüfte. In Europa verpuffte jedoch zunächst das Interesse am elastischen Material. Viel wichtiger waren zu jener Zeit die Gier nach Gold oder der Import von Lebensmitteln wie Tomaten und Kartoffeln.

Liebesbeweis Gummihandschuh

Die systematische Erforschung und Nutzung von Kautschuk nahm erst im 18. und 19. Jahrhundert an Fahrt auf. Nachdem 1839 der Vulkanisationsprozess durch Charles Goodyear entdeckt wurde, zählten Katheter und Magenschläuche bald zu den ersten medizinischen Produkten.

Der eigentliche Siegeszug von Kautschuk im Gesundheitswesen begann 1894, als der amerikanische Chirurg William Steward Halsted das Tragen von Gummihandschuhen bei Operationen einführte. Halsted beauftragte die „Goodyear Rubber Company“ mit der Herstellung, um die Hände seiner OP-Schwester und späteren großen Liebe Caroline Hampton vor Irritationen durch damals gängige Handdesinfektionsmittel zu schützen.

Produktion von Gummihandschuhen: Verwendet wurden dafür Porzellanformen verschiedener Größen (Aufnahme um 1955). Quelle: Gummi ‒ Die Elastische Faszination

Produktion von Gummihandschuhen: Verwendet wurden dafür Porzellanformen verschiedener Größen (Aufnahme um 1955). Quelle: Gummi ‒ Die Elastische Faszination

Die Erfolgsstory Kautschuk machte auch vor den eigenen vier Wänden nicht halt. „Kalte Betten sind eine Gefahr für die Gesundheit!“ – hieß es 1929 in der „Gummi-Zeitung“. Mit dem Slogan sollte die Gummiwärmflasche angepriesen werden, die erstmals vor dem Ersten Weltkrieg aufkam. Ein weiteres Medizinprodukt, das vor rund 100 Jahren die Schlafzimmer eroberte und vor übertragbaren Krankheiten wie auch ungewollten Schwangerschaften schützt, ist das Kondom. Das erste massentaugliche Verhütungsmittel aus Gummi gelangte 1912 auf den Markt, als der Fabrikant Julius Fromm in Deutschland das Kondom „ohne Naht“ perfektionierte.

Heutzutage könnte die moderne Medizin ohne Kautschuk nicht funktionieren. Es ist unmöglich, damit nicht in Berührung zu kommen. Das Material ist hygienisch, verträgt sich mit dem menschlichen Körper und ist vor allem erschwinglich. Das muss es auch: Allein in Deutschland wurden 2021 laut Statistischem Bundesamt rund 16 Millionen Operationen durchgeführt. Dafür werden unter anderem Operationsbestecke, Verbandsmaterial oder Wunddrainagen benötigt – und damit Kautschuk-Elastomere. Blickt man darüber hinaus auf die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland – 78,5 Jahre bei Männern und 83,4 Jahre bei Frauen – wird die Bedeutung von Gummi umso deutlicher. Ohne den Werkstoff könnten besonders die Älteren der Gesellschaft nicht mit Prothesen, künstlichen Gelenken oder lebensrettenden Herzklappen und Stents versorgt werden.

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